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Foto: Gabriele Datenet

 

Armut und Obdachlosigkeit sind grausam ...

Diese Kurzgeschichte wurde 2012 in den "Kleinen Hattersheimer Heften" veröffentlicht und belegte bei dem Literatur-Wettbewerb St. martin am Autoberg in Hattersheim mit dem Thema "Obdachlose Menschen" den 2. Platz.


Marthe

(C) Gabriele Datenet


Wasser plätschert an die Kaimauer und wie Spinnenbeine ragen die Kräne aus dem Nebel. Die Szenerie des Hafenbeckens wirkt geisterhaft. Feuchte Kälte kriecht in die morsche Behausung aus Holz und Wellblech. Marthe zieht die alte graue Wolldecke enger um sich und schaut hinaus auf den Hafen. Sie mag diese Aussicht, die vorüber fahrenden Schiffe und das Glitzern des Wassers, die vertrauten Geräusche ringsumher und das Licht der Laternen, in dem sich unzählige Insekten tummeln, als träfen sie sich dort zu einem kleinen Plausch. Marthe fröstelt. Ein heißer Tee wäre jetzt gut, denkt sie, und beißt in ein Stückchen Brot, das sie am Nachmittag aus dem Mülleimer einer Imbissbude gezogen hat. Sie denkt an das Obdachlosenheim, in das sie hätte gehen können und an die geschützten Ecken in den Einkaufsstraßen, die die Nacht angenehmer machen als hier, doch hier findet sie ein Stückchen Vertrautheit und das subjektive Gefühl von Geborgenheit.

Fünf Jahre macht Marthe schon Platte. Fünf Jahre des Umherirrens und der Einsamkeit, des Hungers, der Sehnsucht und der Verzweiflung. Warum? Ihr fällt keine Antwort darauf ein. Sie hat sich dieses Leben nicht ausgesucht. Hineingerutscht ist sie, einfach so. Wie so viele andere auch. Tiefschläge haben sie fallen lassen und in die Mutlosigkeit getrieben. Aufgerappelt hat sie sich, immer und immer wieder, wie ein Stehaufmännchen und ist ihren Weg weitergegangen, zielgerichtet, geradeaus, aber irgendwann kann man nicht mehr, dann bleibt man einfach liegen mit einem Geflecht aus Schmerz und Müdigkeit in sich, das sich wie ein Geschwür ausbreitet, bis nichts mehr geht.

Marthe schaut frierend hinaus auf den Hafen, auf die durch den Nebelschleier getrübten Lichter. Ein Schiff fährt vorbei. Das Geräusch ist wie Musik in ihren Ohren. So vertraut. Alles hier ist vertraut und erinnert sie an ihren Mann Hermann, damals als er noch lebte. Er hatte als Binnenschiffer gutes Geld verdient und sie hatten ein schönes Leben geführt. Von Hattersheim nach Frankfurt waren sie gezogen, in ein schönes Haus mit Garten, doch die Krise in dieser Branche hinterließ ihre Spuren …

Dort, wo sie heute nach Pfandflaschen sucht und nach Essbarem, gingen sie früher vergnügt durch die Straßen und genossen das pulsierende Leben der Großstadt. Hätte man ihr damals gesagt, dass sie einmal auf der Straße landen würde, hätte sie wohl lauthals gelacht.

Sie schämt sich ihres heutigen Lebens, und sie schämt sich auch, dass sie damals, als sie noch zur so genannten Guten Gesellschaft gehörte , arrogant auf die bettelnden Obdachlosen herabgesehen hatte. Heute weiß sie, dass auch diese Menschen vorher ein ganz normales Leben geführt hatten, bis sie absackten und nicht mehr stark genug waren, sich aus dem Morast des Elends herauszuziehen. Wenn sie heute durch die belebten Einkaufsstraßen geht, leise und unauffällig, immer auf der Suche, begegnen ihr Bettelnde, deren Hände sich nach Passanten ausstrecken, in der Hoffnung auf ein Geldstück. Noch ist sie zu stolz, es ihnen gleichzutun. Zu stolz auch, um zur Flasche zu greifen.

Wie einfach wäre es, mit Alkohol  sein Schicksal zu ertränken, aber das wäre wohl das Ende. Sie hatte ihren Mann an den Folgen des Alkoholkonsums sterben sehen.

„Alkohol-Leberzirrhose“, sagten die Ärzte damals. Man konnte ihm nicht mehr helfen.

So elendig will sie nicht zu Grunde gehen.

Stolz, denkt sie, es ist gut, das ich den wenigstens noch habe.

Schritte verhallen in der Dunkelheit. Die letzten Berufstätigen machen sich auf den Weg nach Hause zu ihren Familien. Marthe drückt sich tiefer in ihren Unterschlupf, zieht die Decke unters Kinn und bettet ihren Kopf auf den Rucksack. „Familie…“, denkt sie, schließt die Augen und entschlüpft in die Vergangenheit.

Familie…. Wie schön war es damals. Sie und Hermann waren so glücklich, als Volker geboren wurde. Ein kleiner Sonnenschein mit blonden Locken und großen blauen Augen. Hermann hatte sie auf Händen getragen, sie mit Reisen und Geschenken verwöhnt. Sie hatten den Glanz der großen Städte gesehen. Paris, New York, Berlin...

Eine glückliche Familie waren sie, bis das Geschäft immer schlechter lief. Hermann konnte das nicht verkraften und griff immer häufiger zur Flasche. Er wurde ungerecht, ließ seinen Frust an der Familie aus und stritt immer öfter mit Volker, der nicht gewillt war, in das Geschäft seines Vaters mit einzusteigen. Volker konnte den dauernden Streit mit seinem Vater und die ganze Misere nicht mehr länger ertragen und ging aus beruflichen Gründen nach Kanada. „Ich ruf Dich an.“, hatte er ihr beim Abschied liebevoll zugeflüstert, bevor er in das Flugzeug nach Vancouver stieg. Das war vor sieben Jahren. Sie hat ihn nie wiedergesehen.

Mit dem Geschäft ging es immer weiter bergab, bis schließlich nach der Insolvenz, auch noch Haus und Grundstück der Zwangsversteigerung zum Opfer fielen. Sie bezogen Sozialhilfe und wohnten in einer kleinen Wohnung am Rande der Stadt. Hermann starb noch im selben Jahr. Das Mietshaus fiel an einen Immobilienhai, und sie stand auf der Straße. Mit einem Haufen Schulden, allein, unfähig, geschockt und mit einer Minirente. Zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel.

Volker wusste von all dem nichts. Nichts von der Firmenpleite, nichts von der Zwangsversteigerung seines Elternhauses, nichts von dem Tod seines Vaters und auch nichts von ihrem Leben auf der Straße. Wie denn auch? Sie hatte nie seine Adresse erfahren.

Vielleicht sucht er nach mir, denkt sie. Wie soll er mich denn auch finden in dieser Stadt? Vielleicht hält er mich für tot. Unter Marthes Lidern brennt es, und das Herz in ihrer Brust fühlt sich an wie ein schwerer Stein. „So weit weg.“, flüstert sie, „Volker, wo bist Du?“ Und zum ersten Mal seit  fünf Jahren weint sie bittere Tränen. Sie weint um den Verlust ihres Mannes, um ihren Sohn Volker, nach dem sie sich so sehnt und um ihr eigenes verpfuschtes Leben. Sie sieht die in Säcke und Decken gehüllten Obdachlosen vor sich, die geschützt in den Seitengassen der Fußgängerzonen, auf Abluftschächten und Eingängen luxuriöser Geschäfte bei Wind und Wetter ihre Nächte verbringen, betäubt von irgendeinem billigen Fusel unter den Blicken vorbeieilender Menschen. Sie denkt an den letzten Winter, daran, dass dieser drei Menschen in den Tod geschickt hatte. Darunter war auch Werner, der ihr oft begegnet war, mit dem sie hin und wieder ein paar Worte gewechselt hatte. Richtig gekannt hatte sie ihn nicht, doch sie vermisst ihn heute und bereut, ihn nicht näher kennengelernt zu haben, denn er war ein guter Mensch gewesen, der ihr oft von seinem spärlichen Mahl etwas abgegeben hatte. Vielleicht hätte er einen guten Zuhörer gebraucht, dem er sein Herz ausschütten konnte, dachte sie. Vielleicht hätte sie sein Herz mit ein wenig Wärme füllen können, um das Vertrauen zu den Menschen wiederzufinden, das im Laufe der Zeit verlorengegangen war. Sie hatte es nicht getan und so war er wie immer kraft- und ziellos durch die Straßen gelaufen und mit jedem Mal, wo sie ihn traf, erschien er ihr trauriger als je zuvor.

Nun war er tot. Irgendwo begraben, ohne dass jemand um ihn weinte.

Will auch sie so enden? Nein, das will sie nicht!

„Volker, ich bin nicht tot“, weint sie. Und sie weiß, wenn sie ihren Sohn jemals wiedersehen will, muss sie etwas ändern.

Steh’ auf und geh’! schreit es in ihr. Stürz’ die dicke Mauer um dich herum ein und verlass’ dieses schreckliche Leben! Werde wieder ein Stehaufmännchen so wie früher, schau nach vorne und kämpfe für dein Recht! Verlasse die eingetretenen Pfade und hole dir Hilfe! Es gibt betreute Wohnheime, die Tafel, Stellen, die ihr weiterhelfen können …

Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie spürt eine Kraft, wie sie sie lange nicht mehr gespürt hat. Ja, sie würde es schaffen! Ganz bestimmt! Und wie die erste zarte Blüte des Frühlings keimt in ihr die Hoffnung und sie erkennt mit einem Male, dass alles wieder gut werden kann.

Mit einem Gefühl der Erleichterung schläft sie ein, und sie träumt von Volker, der vor ihr steht und sie in die Arme nimmt…

Ein paar Sonnenstrahlen fallen in den Verschlag. Marthe öffnet die Augen und schaut auf einem wolkenlosen Himmel. Im Hafen herrscht geschäftiges Treiben. Schlepper, im Schatten eines Containerschiffes, Hafenfähren, die Passagiere befördern, Menschen, die vorübergehen, auf den Weg zur Arbeit. Ein paar Möwen sitzen auf der Kaimauer und beäugen sie aufmerksam, bevor sie sich kreischend in die Luft erheben.

Marthe reibt sich ihre vom Weinen geschwollenen Augen und streckt ihre steifen Glieder. Sie schaut in die Morgensonne und lächelt. Heute ist ein guter Tag, um in den Kampf zu ziehen, denkt sie, und ich werde es schaffen!

Sie steckt die alte Wolldecke in den Rucksack, schlüpft in ihre abgelaufenen Stiefel und macht sich auf den Weg. Vielleicht wird es ein langer steiniger Weg bis zum Ziel, denkt sie, aber wo Stolz ist, da ist auch Hoffnung und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.

 

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